Vorbemerkung: Als besondere Auszeichnung und als Anerkennung ihrer herausragenden Leistungen ehrte Kultusminister Jürgen Schreier am 30.06.2004 die besten Abiturienten des Saarlandes. Bestandteil der Feierstunde war auch die vor fünf Jahren wieder eingeführte Abiturrede durch einen bedeutenden Schriftsteller. In diesem Jahr hielt die Rede, von der hier nur Auszüge vorliegen, der mit etlichen Literaturpreisen ausgezeichnete österreichische Autor Raoul Schrott. Raoul Schrott Eine Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2004 Liebe Abiturienten, viel halte ich nicht von Euch. Und beneide Euch auch nicht. Wenn ich nach einem Schlagwort suchen müßte, um Eure Generation auf einen Nenner zu bringen, würde ich Euch Konformisten schimpfen. Ein paar Jahre älter, und ich sehe Euch scon vollkommen eingegliedert in diese neue Gesellschaftsschict, die einem überall in den deutschen Fußgängerzonen begegnet: Gel im Haar, Sonnenbrillen auch im Winter, ledrig braun vom wöchentlichen Solarium, Silikonsäcke in der Brust der Frauen, die Männer hart am Waschbrettbauch arbeitend, aber allesamt geistige Bügelbretter. Metrosexuelle in der Nachfolge von in die Jahre gekommenen Yuppies und Singles, androgyn zwischen Anämie und Bulimie, nur den Job im Kopf, den nächen all-inclusive-Urlaub, Ameriak als Traumziel, kulturell zwischen Hollywood und Viva, Schamrasur und PayTV als Kick, Naturschutz als Konfessionsbekenntnis und die politische Haltung von reinen Konsumenten. [...] Nichts Schlimmeres gibt es für Euch als Langeweile. Und nicht Tabuisierteres als das, was in die Tiefe geht: Tod; Gewalt; Gefühle, sobald sie pathetisch werden; sogar Humor, wenn er abgründig wird. Statt dessen habt Ihr einen untrüglichen Sinn für das entwickelt, was zeitgeistig ist. Welche Themen diskutierbar, welche Vokabeln zulässig sind und welche nicht. Damit aber habt Ihr auch Eure freiwillige Unmündigkeit erklärt. Wenn ich Euch reden höre, ist das, worüber Ihr euch definiert Kleidung und Musik. Bei meiner Generation war es ebenso, nur mit dem Unterschied, daß wir uns noch nicht über Industriemarken mit einem Rollenbild identifizierten. Und die Musik für uns wneigstens noch den Anstrich von Verbotenem und Subversivem an sich hatte, mit Texten, die sich am Kritischen und am Poetischen maßen. Musik und Kleidung boten uns Identifikationsmöglichkeiten für etwas, das erst im Entstehen begriffen war, mit dem man sich erst auseinandersetzen mußte, sie waren Träger einer Aufbruchsstimmung, die in den sechziger Jahren begann und in den Achtzigern scheiterte. Statt Woodstock habt Ihr jetzt eine Love Parade als registered Trademark für das Abtanzen in ein besinnungsloses Nirwana; statt Punk Pink. Auf die eigene Fahne schreiben kann und will ich dies nicht, um so weniger als jene Epoche jetzt nur mehr als nostalgische Randerscheinung eines noch nie dagewesenen Industrialisierungsschubes aufleuchtet. Und Ihr könnt nicht dafür, daß alles, was danach kam, nur mehr vermarktet wurde. Sich selbst ähnlich und sich selbst nach vorgegebenen Formeln reproduzierend, hört und sieht es sich nun überall gleich an, in Japan, Amerika oder hier: Das Konzept der Globalisierung mißt sich ja daran, daß Coca Cola und ein Hamburger überall gleich schmecken. Kein Wunder also, daß auch Ihr ausseht wie geklont. Man begreift sich ja meist erst über die anderen. In diesem Rollenspiel, das die Jugend ist, diesem Ausprobieren von Posen und Possen, erkennt man sich auch im Spiegel der anderen. Umgeben von Masken aber, die wie Latex sitzen, mit denselben vom Video einstudierten Gesten und den überall gleichen Floskeln, entzieht sich Euch die eigene Person im gleichen Maß, wie Euch unter diesen Gummigesichtern das Individuelle der anderen verborgen bleiben muß. Was sich als wahres Ich darunter zeigt, nimmt man da natürlich zuerst [...] als Blöße wahr. Die dann, in einem perfekt inszenierten Gesellschaftsspiel, das sich über Konsumentenschicht und Quote klar definiert, wieder weiter vermarktet wird. Woher rührt sonst diese Faszination für Realiyshows für jedes Lebensalter? Von der Lindenstraße für die älteren Semester bis zu Big Brother bieten sie ja nur eine Überwachungskamer auf das banal Alltägliche; um so etwas interessant zu finden, muß man schon eine Topfpflanze sein - oder eben vollkommen im Ungewissen über die eigene Natur. Dann ist es der Charakter des soziologischen Experiments mit seinen gruppendynamischen Versuchsanordnungen, die interessiern, weil sie Einblick schenken in das, was andere tun, denken, sagen, sobald sie ihre Masken ablegen. Wo sonst mag etwa für Euch die Faszination eines so erbämlichen Spektakels wie DeutschlandSuchtDenSuperstar liegen? Im Wunsch wahrscheinlich, im Mittelpunkt aller Aufmersamkeit zu stehen und beklatscht zu werden. Nicht aus Narzißmus, sondern eher aus einem am Virtuellen und Gleichmacherischen aller Realitäten verzweifelnden Exhibitionismus: Um endlich allen zu zeigen, schaut her, das bin ich, so bin ich, Ich. Und dabei doch nur wieder das Stereotype zu finden: kultuerelle Flächenwirkung statt Selbstverwirklichung. [...] Ja, ich beneide Euch nicht. Und wenn ich wenig von Euch halte, dann weil Ihr keinen Gebrauch macht vom Vorrecht der Jugend, alles in Frage zu stellen. Es zu müssen, weil man bei diesem Erwachsenwerden doch alles beinahe zwangsläufig hinterfragt, bevor man es sich zu eigen macht, erst in der Konfrontation mit den Dingen zu sich findet. Denn jede Generation erfindet sich ihre Welt von neuem. Wo aber ist Euer Sturm und Drang? Wo das Bilderstürmende und Denkmalstürzende? Wo das Anarchische und Idealistische der Pubertät? Feige Konformisten seid Ihr. Langweiler. Nein, es geht nicht darum, Revolutionen anzuzetteln, obwohl das eine gute Übung wäre. Sondern um das, was die Franzosen état d'esprit¹ nennen. Bei euch müßte man ihn umdrehen: Ihr habt nicht als einen esprit d'Etat². Staatsbürgerlich verbeamtete Gesinnungen statt einer individuellen Geisteshaltung. [...] |