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Donnerstag, 6. November 2008

" Feige Konformisten seid Ihr. Langweiler." - Meinung zum Text "Eine Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2004"

     

Vorbemerkung:
      Als besondere Auszeichnung und als Anerkennung ihrer herausragenden Leistungen ehrte Kultusminister Jürgen Schreier am 30.06.2004 die besten Abiturienten des Saarlandes. Bestandteil der Feierstunde war auch die vor fünf Jahren wieder eingeführte Abiturrede durch einen bedeutenden Schriftsteller. In diesem Jahr hielt die Rede, von der hier nur Auszüge vorliegen, der mit etlichen Literaturpreisen ausgezeichnete österreichische Autor Raoul Schrott.

     

Raoul Schrott
      Eine Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2004

     

Liebe Abiturienten, viel halte ich nicht von Euch. Und beneide Euch auch nicht. Wenn ich nach einem Schlagwort suchen müßte, um Eure Generation auf einen Nenner zu bringen, würde ich Euch Konformisten schimpfen. Ein paar Jahre älter, und ich sehe Euch scon vollkommen eingegliedert in diese neue Gesellschaftsschict, die einem überall in den deutschen Fußgängerzonen begegnet: Gel im Haar, Sonnenbrillen auch im Winter, ledrig braun vom wöchentlichen Solarium, Silikonsäcke in der Brust der Frauen, die Männer hart am Waschbrettbauch arbeitend, aber allesamt geistige Bügelbretter. Metrosexuelle in der Nachfolge von in die Jahre gekommenen Yuppies und Singles, androgyn zwischen Anämie und Bulimie, nur den Job im Kopf, den nächen all-inclusive-Urlaub, Ameriak als Traumziel, kulturell zwischen Hollywood und Viva, Schamrasur und PayTV als Kick, Naturschutz als Konfessionsbekenntnis und die politische Haltung von reinen Konsumenten. [...]

     

Nichts Schlimmeres gibt es für Euch als Langeweile. Und nicht Tabuisierteres als das, was in die Tiefe geht: Tod; Gewalt; Gefühle, sobald sie pathetisch werden; sogar Humor, wenn er abgründig wird. Statt dessen habt Ihr einen untrüglichen Sinn für das entwickelt, was zeitgeistig ist. Welche Themen diskutierbar, welche Vokabeln zulässig sind und welche nicht. Damit aber habt Ihr auch Eure freiwillige Unmündigkeit erklärt. Wenn ich Euch reden höre, ist das, worüber Ihr euch definiert Kleidung und Musik.
        Bei meiner Generation war es ebenso, nur mit dem Unterschied, daß wir uns noch nicht über Industriemarken mit einem Rollenbild identifizierten. Und die Musik für uns wneigstens noch den Anstrich von Verbotenem und Subversivem an sich hatte, mit Texten, die sich am Kritischen und am Poetischen maßen. Musik und Kleidung boten uns Identifikationsmöglichkeiten für etwas, das erst im Entstehen begriffen war, mit dem man sich erst auseinandersetzen mußte, sie waren Träger einer Aufbruchsstimmung, die in den sechziger Jahren begann und in den Achtzigern scheiterte. Statt Woodstock habt Ihr jetzt eine Love Parade als registered Trademark für das Abtanzen in ein besinnungsloses Nirwana; statt Punk Pink. Auf die eigene Fahne schreiben kann und will ich dies nicht, um so weniger als jene Epoche jetzt nur mehr als nostalgische Randerscheinung eines noch nie dagewesenen Industrialisierungsschubes aufleuchtet. Und Ihr könnt nicht dafür, daß alles, was danach kam, nur mehr vermarktet wurde. Sich selbst ähnlich und sich selbst nach vorgegebenen Formeln reproduzierend, hört und sieht es sich nun überall gleich an, in Japan, Amerika oder hier:
        Das Konzept der Globalisierung mißt sich ja daran, daß Coca Cola und ein Hamburger überall gleich schmecken. Kein Wunder also, daß auch Ihr ausseht wie geklont.
      Man begreift sich ja meist erst über die anderen. In diesem Rollenspiel, das die Jugend ist, diesem Ausprobieren von Posen und Possen, erkennt man sich auch im Spiegel der anderen. Umgeben von Masken aber, die wie Latex sitzen, mit denselben vom Video einstudierten Gesten und den überall gleichen Floskeln, entzieht sich Euch die eigene Person im gleichen Maß, wie Euch unter diesen Gummigesichtern das Individuelle der anderen verborgen bleiben muß. Was sich als wahres Ich darunter zeigt, nimmt man da natürlich zuerst [...] als Blöße wahr. Die dann, in einem perfekt inszenierten Gesellschaftsspiel, das sich über Konsumentenschicht und Quote klar definiert, wieder weiter vermarktet wird. Woher rührt sonst diese Faszination für Realiyshows für jedes Lebensalter? Von der Lindenstraße für die älteren Semester bis zu Big Brother bieten sie ja nur eine Überwachungskamer auf das banal Alltägliche; um so etwas interessant zu finden, muß man schon eine Topfpflanze sein - oder eben vollkommen im Ungewissen über die eigene Natur. Dann ist es der Charakter des soziologischen Experiments mit seinen gruppendynamischen Versuchsanordnungen, die interessiern, weil sie Einblick schenken in das, was andere tun, denken, sagen, sobald sie ihre Masken ablegen. Wo sonst mag etwa für Euch die Faszination eines so erbämlichen Spektakels wie DeutschlandSuchtDenSuperstar liegen? Im Wunsch wahrscheinlich, im Mittelpunkt aller Aufmersamkeit zu stehen und beklatscht zu werden. Nicht aus Narzißmus, sondern eher aus einem am Virtuellen und Gleichmacherischen aller Realitäten verzweifelnden Exhibitionismus: Um endlich allen zu zeigen, schaut her, das bin ich, so bin ich, Ich. Und dabei doch nur wieder das Stereotype zu finden: kultuerelle Flächenwirkung statt Selbstverwirklichung. [...]

     

Ja, ich beneide Euch nicht. Und wenn ich wenig von Euch halte, dann weil Ihr keinen Gebrauch macht vom Vorrecht der Jugend, alles in Frage zu stellen. Es zu müssen, weil man bei diesem Erwachsenwerden doch alles beinahe zwangsläufig hinterfragt, bevor man es sich zu eigen macht, erst in der Konfrontation mit den Dingen zu sich findet. Denn jede Generation erfindet sich ihre Welt von neuem. Wo aber ist Euer Sturm und Drang? Wo das Bilderstürmende und Denkmalstürzende? Wo das Anarchische und Idealistische der Pubertät? Feige Konformisten seid Ihr. Langweiler. Nein, es geht nicht darum, Revolutionen anzuzetteln, obwohl das eine gute Übung wäre. Sondern um das, was die Franzosen état d'esprit¹ nennen. Bei euch müßte man ihn umdrehen: Ihr habt nicht als einen esprit d'Etat². Staatsbürgerlich verbeamtete Gesinnungen statt einer individuellen Geisteshaltung. [...]



Dieser Text wurde in dieser gekürzten Fassung entweder im Fachabitur oder im Allgemeinen Abitur der FOS/BOS in Bayern in einem der letzten Jahre behandelt.

Ich halte diese Rede für sehr lesenswert, da sie einen direkten Vorwurf an unsere Generation darstellt. Zwar ist die Rede an Abiturienten gerichtet, trotzdem glaube ich, dass Raoul Schrott diese Aussagen auch auf die allgemeine Jugend beziehen würde.

Der erste Gedanke der mir kam, fühle ich mich angesprochen? Bin Ich auch Teil dieser Generation oder bin vielleicht
Ich die Ausnahme der Regel. Diese Frage sollte wohl jeder für sich selbst beantworten, der Gedanke ist aber interessant für jeden. Suchen wir tatsächlich die ständige Beschäftigung ohne in der Lage zu sein, eine Pause einzulegen, Platz für Gefühle zu lassen? Ich glaube schon, jedoch handelt es sich hier wohl nicht um ein Problem der Jugend, sondern der Gesellschaft als solche. Emotionen und Gefühle dürfen sich nur in standardisierten Grenzen bewegen und werden auch so ausgelebt, wer aus diesem Schema ausbricht wird nicht verstanden.

Definiert sich die heutige Jugend über Kleidung und Musik? Gerade bei der Mode ist diese Entwicklung zu beobachten. Dies führt zu einer fast schon ätzenden Oberflächlichkeit was den Umgang untereinander betrifft. Trotz allem ist es für eine Jugendkultur wichtig sich über Musik und Kleidung zu definieren, gerade um sich aus dem Konformismus der Gesellschaft zu lösen. Doch gerade die Mode wurde von der Industrie dermaßen vereinnahmt, dass es kaum noch möglich scheint eine Einstellung über die Kleidung zu repräsentieren. Jede modische Neuorientierung wird von der Modeindustrie absorbiert und gnadenlos vermarktet, bis zur Farce seiner selbst. Ob die alleinige Schuld an dieser Entwicklung die heutigen Generation trifft, ist zu bezweifeln.
Bei der Musik muss man der Rede jedoch widersprechen. Sind wir wirklich eine Generation die Musik feiert, "[...]zum Abtanzen in ein besinnungsloses Nirwana"? Teilweise wohl schon, anders sind Hits wie 3 Tage Wach und Konsorten wohl nicht zu erklären. Jedoch sind die angesprochenen Texte von früher, "[...]die sich am Kritischen und am Poetischen maßen" durchaus vorhanden. Gerade die HipHop-Kultur ist meiner Meinung nach DIE zeitgenössischen Lyrik. Wer sich auch nur oberflächlich mit Rap beschäftigt stößt sofort auf sozialkritische, visionäre, anprangernde und emotionale Texte und Lieder. Künstler wie Curse, Nas, Common sind hier nur die offensichtlichsten Beispiele. Dies gilt im übrigen nicht nur für Rap, auch in anderen Musikrichtungen findet man derartige Ansätze. Tatsächlich hat Rap sogar noch größeres Potential als frühere Musikrichtungen, Botschaften zu vermitteln und Träger einer Aufbruchsstimmung zu sein. Dass diese qualitative Musik nicht die Aufmerksamkeit der breiten Masse findet ist wohl das eigentliche Problem dieser Generation.

Und genau hier schließt sich der Kreis. Jeder, der sich über die öffentlich anerkannten Grenzen
hinaus bewegt und versucht an der Oberfläche zu kratzen (hier mit der Musik) wird automatisch ausgegrenzt. Das ist keine bewusste Reaktion, sondern für mich eher das Zeichen einer unbewussten Angst dieser Generation die emotionale Starre dieser Zeit aufzubrechen. Genau das ist auch der Grund, warum sich Menschen in das Fernsehen und seine schwachsinnigen Formate bzw. das Internet flüchten. (Dieser Satz ist durchaus auch als Selbstkritik zu verstehen). Wer traut sich heutzutage noch Flugblätter zu drucken und diese in der Stadt zu verteilen? Wer engagiert sich noch politisch oder für die Gesellschaft? Gibt es überhaupt noch ein allgemeines Interesse am täglichen Geschehen, außerhalb des eigenen Horizonts? Jede Generation trägt das Potential, neue Ideen zu verwirklichen. Die heutige ist einfach nur betäubt. Und das ist das eigentliche Problem.

-heiligeremilius

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